Die Marathongeschichte aus Boston

Die Marathongeschichte aus Boston

Am 21. April fand in Boston der Marathon statt. Es ist also reichlich spät heute davon zu erzählen. Schuld daran sind die Politiker. Wer sonst? 😉 Doch in Wien hat man sich eingebildet, die städtische Wahl auf den Sonntag der Osterwoche vorzuverlegen. Dadurch hatte ich nach meiner Rückkehr aus den USA zwar nicht unbedingt Besseres zu tun. Aber was Hauptberufliches. Mein Nebenjob und Hobby als Möchtegern-Sportreporter musste warten.

Bostongeschichten

Boston ist nicht irgendein Marathon. Es ist „der“ Marathon. Dort wird am längsten gelaufen, die Olympischen Spiele und diese legendäre Fake-Geschichte aus der Antike einmal ausgenommen. Bereits 1897 gab es in Boston erstmals einen Marathon.

Naturgemäß ist niemand zu finden, der immer dabei war. Dennoch durften 2025 709 Läuferinnen und Läufer starten, weil sie bereits zehnmal oder öfters antraten. Der älteste Starter im heurigen Jahr war übrigens 83 Jahre jung. Insgesamt gibt es über 30.000 Startplätze, um die sich jährlich 300.000 bis 400.000 Menschen bemühen.

Als 50- bis 54-jähriger Mann beispielsweise müssen Sie eine aktuelle(!) Bestzeit von unter 3:20 Stunden aufweisen. Mit dem Risiko, dass zu viele Altersgenossen noch viel schneller sind, so dass es sich trotzdem nicht ausgeht.

Boston ist auch einzigartig, weil dort als einziger großer Marathon am Montag gelaufen wird. Genauer gesagt am Patriots Day. Weil das vor Ort ein riesiger Feiertag und Gedenken an die ersten blutigen Schlachten des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges ist. Apropos blutig: 2013 gab es in Boston im Zielgelände einen Bombenanschlag.

Doch nur einmal in 129 Jahren fiel der Marathon aus. 2020 im Jahr der Coronapandemie. Sonst ist er ein größeres Denkmal als alle Statuen, die irgendwann irgendwo aufgestellt wurden. Und es gibt noch eine Besonderheit.

Der Marathon in Boston ist ein „One way“-Kurs. Mit Start in Hopkinton außerhalb der Stadt und Ziel in der Boylston Street beim Copley Square. Copley ist ein berühmter Malertyp, der besonders gerne ältere weiße Sklavenhalter mit deren Familien gemalt hat. Was ein lukratives Geschäft war.

In Summe weist der Bostoner Marathon jedenfalls ein Gefälle von netto 140 Meter auf, das zu groß ist, um dortige Zeiten als Rekorde anzuerkennen. Handelt es sich daher um eine vergleichsweise leichte Strecke? Nein. Ganz im Gegenteil. Es ist ein hügeliges 248 Höhenmeter auf und 388 Meter ab. Die Steigung bei ungefähr 32 Kilometer heißt bezeichnenderweise Heartbreak Hill.

Dein Freund und Helfer ist höchstens der Wind. Kommt dieser konstant und stark aus dem Westen, sind trotz des Streckenprofils absolute Spitzenzeiten möglich. Diesmal war Süd- bis Ostwind. Was immer noch besser war als der Schneeregensturm 2018.

Fangeschichten

Ich bin nicht gelaufen. Sondern habe als Fan und Reporter zugeschaut. Was ebenfalls nicht einfach war. Denn um verschiedene Punkte der Strecke anzusteuern, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder Bostons U-Bahn aus dem Jahr 1897. Das ist kein Tippfehler und das Tempo ist der Altehrwürdigkeit entsprechend.

Oder eine nicht viel jünger wirkende Vorortelinie, bei der an jeder Station nur wenige Türen der sehr vielen Waggons geöffnet werden. Was nicht einmal die zweitbeste Idee ist. Sondern strunzdumm. Denn dadurch dauert der Aus- und Einsteigevorgangs der tausenden Fans überall eine gefühlte Ewigkeit.

Daher erreichte ich problemlos die Ortschaft Framingham, um rund zehn Kilometer nach dem Start die Spitze der „Rollies“ sowie des Männer- und Frauenrennens zu sehen. Man kann da auch wunderbar auf jede und jeden warten, die man persönlich anfeuern möchte.

Der Rest der Fahrpläne ist freilich graue Theorie. Ein Grundkurs im Catchen wäre nicht schlecht, um es überhaupt in und aus dem Zug zu schaffen. Leider kommt es durch die beschriebenen Verzögerungen dazu, dass an der jeweils nächsten Zielstation sicher Läufer zu sehen sind. Nur leider nicht die, welche man sich vorgenommen hat zu sehen.

Siegergeschichten

Da dieser Blogbericht arg verspätet erscheint, dürfte sich das Ergebnis herumgesprochen haben. Bei den Männern gewann John Korir in 2:04:45 Stunden. Dahinter folgten im Zielsprint der Tansanier Alphonce Simbu und Korirs kenianischer Landsmann Cybrian Kotut. Korir hatte sich am Berg der Herzensbrecher von der Konkurrenz gelöst.

Der US-Amerikaner Conner Mantz wurde Vierter. Das war nicht bloß stimmungsmäßig toll, sondern blieb zum Glück im Rahmen. Weil nach meinem rein persönlichen Geschmack hatten in den letzten Jahren sehr viele US-amerikanische Langstreckenläufer in extrem breiter Front ihre Bestzeiten so sehr verbessert, dass ich als leidgeprüfter Fan zwischen meiner Ablehnung von Pauschalverdächtigungen und sinkenden Vertrauen in Dopingkontrollen hin und her gerissen war.

Korir hatte im Vorjahr in Chicago gewonnen und ein Dreiergespann könnte die Marathons der nächsten Jahre dominieren: Neben Korir ist da Sabastian Sawe, der sowohl 2024 seinen allerersten Marathon in Valencia mit Jahresweltbestzeit als auch heuer in London gewann. Plus natürlich Jacob Kiplimo, dessen 56(!) Minuten aus dem Halbmarathon Unglaubliches vermuten lassen.

Bei den Frauen gab es in Boston bald eine illustre Fünfergruppe, aus der Amane Beriso Shankule – Weltmeisterin in Budapest 2023 – und die damals noch amtierende Hamburgsiegerin Irene Cheptai zurückfielen. Somit blieben Kenias Vorjahrssiegerin Hellen Obiri, ihre Landsfrau Sharon Lokedi – sie war vor Obiris großer Zeit Champion in New York gewesen – und Yalemzerf Yehualaw aus Äthiopien.

Meine emotionale Favoritin war Yehualaw. Nicht weil wir sie beim Training gesehen hatten ;).

Sondern weil sie ihren ersten Marathon in Hamburg gewonnen hatte. 2023 in London stürzte sie. Danach folgten die brutalsten zehn Kilometer, die ich je in einem Frauenmarathon gesehen hatte. Sie lief wieder an die Spitze heran und zertrümmerte diese, um zu gewinnen. Doch seitdem ist Yehualaw trotz eines Sieges mit Streckenrekord in Amsterdam 2024 von Verletzungsproblemen geplagt.

Meiner Meinung nach hat Yehualaw sich in Boston selbst geschlagen. Im Kopf. Als es in Richtung Kilometer 40 ging, machte sie Tempo. Von der Körpersprache her war sie zu diesem Zeitpunkt die Stärkste. Doch fing sie ausgerechnet hier an, sich umzusehen statt weiter die Entscheidung zu suchen. Beim Umdrehen verlor sie ein paar Meter und die Lücke wurde rasch größer. Bis zum Ziel danach nicht mehr, doch Heranlaufen konnte sie genauso wenig.

Es blieben Lokedi und Obiri. Marathonauskenner würden an dieser Stelle ihr Geld und ihre Großmutter auf Obiri verwetten. Weil es immer schon so war. Obiri kommt von der Bahn, war Weltmeisterin im 5.000 Meter-Lauf und kann etwas, das im Marathon fast niemand kann. Kicken. Also einen Schlussspurt. Wer mit Obiri auf den letzten Kilometer kommt, der verliert.

Das ist Lokedi bereits in New York passiert. Sie wusste von der Wiederholungsgefahr. Sie gestikulierte wild, dass Obiri Führungsarbeit übernehmen solle. Sie schien keine Strategie gegen die Sprintfähigkeiten ihrer Konkurrentin zu haben. Doch jeder Marathonlauf ist anders. Obiri konnte Lokedis hohes Tempo ab dem 40. Kilometer nicht halten.

Sharon Lokedi siegte in 2:17:22 Stunden. Das war ein fabelhafter neuer Streckenrekord mehr als zweieinhalb Minuten unter der alten Bestzeit. Ihre eigene Hausmarke verbesserte sie um über fünf Minuten.

Frauengeschichten

Boston ist auch die Geschichte der Frauen im Marathonsport. Und das ist eine lange Geschichte. Als Frauen bei den Olympischen Spielen der Neuzeit erst nach 32 Jahren überhaupt Laufwettbewerbe bestreiten durften, galten 1928 in Amsterdam 800 Meter als die längste Strecke, welche einer Frau zuzumuten wäre. In Boston hatte sich diese sexistische Meinung bis zum Ende der 60er-Jahre nicht geändert.

Als Roberta „Bobbie“ Gibb 1966 in Boston mitlief, musste sie das ohne Anmeldung und Startnummer tun und sich vor dem Start im Gebüsch verstecken. 1967 meldete sich Kathrine Switzer offiziell für den Marathon an, unterschrieb jedoch nur mit ihren Initialen. Erst während des Laufs fiel dem Renndirektor Switzers Geschlecht auf. Er wollte sie sofort von der Strecke zerren und ihr die Startnummer entreißen.

Dumm gelaufen für den Herrn Direktor ist, dass Switzer von ihrem Freund und Trainer begleitet wurde. Der erstgenannte war Footballprofi und sein Tackling war Klassen besser als der direktorale Interventionsversuch. Bilder davon und von Switzers Marathonlauf gingen um die Welt – und lösten endlich eine überfällige Diskussion aus.

Ab 1972 wurden Frauen offiziell für Marathonläufe zugelassen. Der aktuelle Weltrekord der Kenianerin Ruth Chepngetich steht bei 2:09:56 Stunden. Was man wiederum nur einem einzigen österreichischen Mann zumuten kann, der Stand heute um die Winzigkeit von drei Sekunden schneller war. Alle anderen Männer sind um Minuten oder Stunden langsamer.

Beste Österreicherin in Boston war übrigens wie immer mit Verweis auf meine Befangenheit Carola Bendl, diesmal anders als in Tokyo hinter Paula Radcliffe. Aber nur knapp.